Warum Domagk?

Die zunehmende Salonfähigkeit rechten Gedankenguts*

I.

Domagk zeigt sich in seinen Lebenserinnerungen als glühender Deutsch-Nationaler – ganz ähnlich vielen seiner wissenschaftlichen Kollegen. Ja, er arbeitete mit bekennenden Nationalsozialisten zusammen, ohne selbst einer zu sein. Ja, er profitierte von dieser Nähe  zum Nationalsozialismus durch besondere Privilegien wie zB seine Reisetätigkeit oder sein hohes Ansehen bis in die höchste NS-Nomenklatura oder wie seine Ehrungen im nationalsozialistischen Staat zeigen – bis zum Schluss. Besonders deutlich ist dies am 30.1.1945, dem Gedenktag der ‘Machtergreifung’, zu sehen: Domagk erhält an diesem Tag aus der Hand des Rektors des ‘Totalen Krieges’, seines Kollegen Siegmund, die naturwissenschaftliche Ehrendoktorwürde; aus gleichem Anlass hält der renommierte Chirurg und ‘gemäßigte’ Rassenhygieniker Karl Heinrich Bauer, den  er umworben hatte, die Sulfonamide in die chirurgische Praxis einzuführen, eine aufrüttelnde Rede mit christlichem Bezug im Heidelberger Lazarett. Ja, Domagk pflegte Umgang zu höchsten militärärztlichen Kreisen und war bestens vernetzt mit wissenschaftlichen Kollegen, unabhängig davon, wie sehr sie involviert waren in den nationalsozialistischen Staat. Für Domagk scheint all dies kein Problem gewesen zu sein. Jedenfalls ist nichts bekannt, was darauf hindeuten könnte, dass er inne gehalten und sein Tun und Handeln einer Reflexion unterworfen hätte, die zu einem deutlicheren Abstand, mehr als seine fehlende Parteizugehörigkeit, geführt hätte. Selbst seine sogenannte Gestapo-Haftzeit im November 1939 machte ihn nicht nachdenklich – im Gegenteil. Und doch war er kein Nationalsozialist. War er (damals) Antisemit?  Liest man seine Lebenserinnerungen aus den 1960er Jahren über jene Zeit, die bedeutsame Fragen aufwerfen, so wird man dies bejahen, auch wenn seine handschriftlichen Korrekturen an diesem Manuskript das Ausmaß der Judenfeindlichkeit verbergen sollten. Sein Antisemitismus war in bestimmten deutsch-nationalen Kreisen des Bürgertums nichts Ungewöhnliches; er war, soweit es sich sagen lässt, kein rabiater Antisemit. Domagk war ein überzeugter Deutsch-Nationaler, dem der Nationalsozialismus seine Träume und Phantasien in Bezug auf Deutschlands Größe erfüllte; und als sie bis zur Bedeutungslosigkeit schrumpfte, war er so involviert in den nationalsozialistischen Staat, dass ihn all die erfahrenen Gratifikationen so korrumpiert hatten, dass er alles Verbrecherische – wie die meisten Deutschen – übersah. Oder er meinte, etwas retten zu können, was unrettbar verloren war? Die Festsetzung durch die Amerikaner im Mai 1945 während einer „kriegswichtigen Reise“ für ein halbes Jahr war die Folge. Doch subjektiv hatte sich Domagk nur dem Militär angedient. Die zunehmende Nationalsozialisierung des Militärs und der Universität hat er zeitlebens nicht wahrnehmen wollen. Sonst wäre seine  Lebenslüge entlarvt worden, nichts mit dem Nationalsozialismus zu tun zu haben.  All sein Schaffen und seine Bemühen, so sein Credo, dienten dem Wohlergehen deutscher Soldaten.  Der Nationalsozialismus war darauf angewiesen, solche Wissenschaftler wie Domagk zu gewinnen, die loyal an seiner Seite stehen und nicht über das Parteibuch verfügen; sie üben damit Vorbildfunktion für die dem System  reserviert gegenüber stehenden Menschen aus und erweisen letztlich objektiv dem Nationalsozialismus einen größeren Dienst als es der Erwerb des Parteibuchs bedeutet hätte. So konnte der Nationalsozialismus bis zum Ende seine ganze Destruktivität entfalten.

II.

Domagk kommt ins Blickfeld, als Paul Bosses Zusammenarbeit mit ihm bzw. dem Leipziger Büro von IG-Farben/Bayer, spätestens seit 1937, bekannt wird. Paul Bosse hatte nach seinem Rauswurf als Chefarzt des Wittenberger Paul Gerhardt-Stifts 1935 eine gynäkologisch-chirurgische Privatklinik gegründet. Der Sohn und spätere Mitautor des Sulfonamidbuchs Günther Bosse hatte 1936 im Zuge seiner medizinischen Doktorarbeit bei Alfred Schittenhelm, der nationalsozialistische Grundideen vertrat und 1933 zum Vollstrecker der Selbstgleichschaltung der Deutschen Gesellschaft für Innere Medizin wurde (die 1949 von ihr verliehene Ehrenmitgliedschaft wurde 2016 widerrufen),  über die Wirksamkeit von Sulfonamiden gearbeitet. Er überzeugte seinen Vater, Kontakt mit Domagk aufzunehmen. Der Vater als Chefarzt seiner Privatklinik war allen Erfolg versprechenden Neuerungen aufgeschlossen. Hieraus entwickelte sich ein Briefaustausch, dessen Spuren, leider ohne Domagks Antwortbriefe, im Bayer-Archiv Leverkusen zu finden sind. Ein letzter handschriftlich verfasster Brief Paul Bosses an Domagk von Oktober 1944 aus der Organisation Todt, zu der er nach seiner Gestapohaft –  im Zuge des 20.7.1944 – als „jüdisch Versippter“ zwangsverpflichtet worden war, befindet sich auch dort. Man kann also mit Fug und Recht sagen, dass Paul Bosse, nicht zuletzt durch seine wissenschaftlichen Veröffentlichungen, ein früher Mitstreiter von Domagk gewesen ist. Unklarheiten in Domagks Lebenslauf, insbesondere die meistens ausschließliche  Erwähnung seiner sogenannten Gestapohaft während des „Dritten Reiches“  als einziges berichtenswertes Ereignis aus der Kriegszeit, machten neugierig gerade auf sein Verhalten im Nationalsozialismus.

III.

Dass Domagk nicht der unbestechliche Wissenschaftler ist, als der er hingestellt wird und als der er gerne sich sah, lässt sich nicht leugnen. Durch seine ‘Gestapohaft’ bekommt er auch einen Hauch des Oppositionellen, an dem ihm gelegen war, wenn man seine Schilderung der Nobelpreisverleihung liest. Dennoch stellt sich die Frage, wie unbesehen und unwidersprochen seine Sichtweise Eingang in die Beschäftigung mit dem Wissenschaftler Domagk gefunden hat. Denn er erfüllt alles, was einen Profiteur und Komplizen des NS-Systems ausmacht. Wie konnte all dies Wissen, das seinen Kollegen und Zeitgenossen bekannt gewesen sein musste, verloren gehen bzw. in sein Gegenteil verkehrt werden?  Das lässt sich so erklären, dass fast die gesamte deutschsprachige medizinische Wissenschaft, die universitäre wie die industrie-abhängige, in großer Nähe zum NS-System stand. Diejenigen, die in Opposition zum System waren, schwiegen nach dem Krieg, auch weil sie nicht schon wieder Außenseiter sein wollten. Zudem gab es einen Korpsgeist der ‘alten’ Netzwerke, den zu verletzen, soziale Ächtung zur Folge haben konnte. So gut wie keiner wollte nach 1945 in Zusammenhang mit dem Nationalsozialismus gebracht werden. Deutschland wurde zu einem Land ohne Nazis und ‘Mitläufer’; es gab nur eine kleine Clique fanatischer Nationalsozialisten, mit denen man nichts zu tun hatte und die man bestraft wissen wollte, deren Opfer man sogar selbst geworden war. All das Unglück, das im Namen von Deutschland verübt worden war, hatte man nicht gesehen und von ihm nichts gewusst. Angesichts der maßlosen Schuld hatte die schonungslose Aufklärung wenig Chancen, Gehör zu finden. Es war leicht, sich der juristischen Kollektivschuldthese zu widersetzen; dabei entledigte man sich jedoch auch dem lästigen Vorwurf der nicht-juristischen Kollektivschuld, die auf das intrapsychische Geschehen abzielt. Sie anzuerkennen hätte für jeden Einzelnen die eigene Verwicklung in den Nationalsozialismus sicht- und fühlbar gemacht. Stattdessen verdrängte und  verleugnete jeder Einzelne seine – unterschiedlich starke – Bindung an den Nationalsozialismus und an den Führer. In einer gewaltigen Täter-Opfer Umkehrung (nach dem Motto: “Das werden wir den Juden nicht verzeihen, dass sie uns die Shoa angetan haben“) sah man sich als die eigentlichen Opfer des Nationalsozialismus: die unter Hitler gelitten hatten, dem „Bombenterror“ der Alliierten ausgesetzt waren, nach dem Krieg Flucht und Vertreibung auf sich nehmen mussten und unter der Hungersnot nach Kriegsende zu leiden hatten. An die Stelle der Kollektivschuld trat die Kollektivscham, in die Hitler die Deutschen „gezwungen“ habe (so Theodor Heuss, Wiesbadener Rede vom 9.12.1949). All dies führte dazu, dass Domagk als aufrechter Nobelpreisträger, der sogar wegen seiner Haltung von der Gestapo verhaftet worden war, verehrt wurde und ihn der Nimbus eines Oppositionellen umgab, der ihn sakrosankt machte. Andererseits wurde er vereinnahmt von einer Öffentlichkeit, die dringend einen ‘Helden’ brauchte,  der für das nicht nazi-berührte Deutschland stand. Der staatlich organisierten Erinnerungs- und Gedenkkultur fehlte und fehlt parallel hierzu die dringend notwendige, familiär ausgerichtete Beschäftigung mit der Nazivergangenheit. Mit zunehmenden zeitlichem Abstand zum Nationalsozialismus verblasst dessen so destruktiver Charakter, nicht zuletzt durch biografische Arbeiten, die die Zeit des „Dritten Reiches“ weitgehend ausblenden oder relativieren. Der gesellschaftliche Kompass verändert sich: Die Enkel und Urenkel sprechen zunehmend unverblümt das aus, was ihre Vorfahren verdrängten und verleugneten und was jahrelang – so war der allgemeine Konsens – unaussprechbar und damit zumindest eingehegt gewesen war. Auch Domagk nahm ‘Korrekturen’ an der historischen Wahrheit vor, die seinen Mythos begründeten. Diese ‘Korrekturen’ wiederum zu korrigieren und näher an die historische Wahrheit heranzuführen, ist Ziel der Beschäftigung mit Domagk – als besonders eindrucksvolles Beispiel von eigener Korrumpierung und gelungener Vertuschung. Wahrlich nicht nur Domagk, aber auch er, steht exemplarisch für eine fehlgeleitete und letztlich missglückte Entnazifizierung, die uns heute mit aller Wucht einholt.

*Dieser Artikel kommt ganz ohne Fußnoten aus. Weitere Information zu Gerhard Domagk  und seinem Umfeld: siehe die Artikel und Dokumente auf dieser Website.