Das Sulfonamidbuch Bosse-Bosse-Jaeger
Auf die Monografie über die örtliche Sulfonamidbehandlung muss hier eingegangen werden, allein schon wegen der Bedeutung, die dieses Buch in der Vor-Penicillinära bekommen hat. Seit seiner Dissertation 1904 hatte sich Paul Bosse in die wissenschaftliche medizinische Diskussion durch eigene Beiträge eingebracht.
Gerhard Domagk von den IG Farbenwerken hatte 1935 in einer ersten Arbeit über die medizinische Wirksamkeit des Prontosils, eines Sulfonamids, berichtet – eine Leistung, für die er vier Jahre später mit dem Nobelpreis ausgezeichnet wurde, den er aber nicht annehmen durfte: Der Beginn einer bis heute wirkenden Legendenbildung (Stummeyer D (2020) Domagk 1937-1951 – Im Schatten des Nationalsozialismus, Springer Heidelberg, S. 47-61).
Die Autoren Bosse, Bosse und Jaeger, so beanspruchen sie für sich, haben die örtliche Anwendung des Prontosils „inauguriert“ und deren Wirksamkeit durch umfangreiche Untersuchungen (12000 ambulante und 4000 klinische Fälle) in den Jahren 1936–42 nachgewiesen. Eine erste Veröffentlichung von Jaeger K H hierzu stammt aus dem Jahr 1936. Als in Tierversuchen 1939 die Wirkung der örtlichen Therapie durch eine italienische Forscherin bestätigt wurde, ging die Reserviertheit innerhalb der ärztlichen Kollegenschaft zurück. Das Thema der Wundinfektion und deren Verhinderung fesselte naturgemäß besonders die Chirurgen.
In seinem Erinnerungsalbum schreibt Günther Bosse: „Davon [von den ersten klinischen Untersuchungen des Prontosil] hörte man natürlich, und ich konnte meinen Vater auch dafür interessieren. Da kam Karl-Heinz Jaeger [Assistenzarzt an der Bosse-Klinik] auf den Gedanken, dass dieses Mittel eigentlich örtlich wirksam sei. Und so kam es, dass unsere Klinik als erste diese örtliche Anwendung versuchte und die Ergebnisse veröffentlichte [1936]… Dies führte damals zu recht lebhaftem Kontakt mit – Nobelpreisträger – Domagk“.
Dies lässt sich im Bayer-Archiv Leverkusen gut nachvollziehen. Zum ersten Mal ist für 1937 eine Zusammenarbeit Bosse-Domagk dokumentiert, die sich in zT persönlichen Briefen von Wittenberg nach Wuppertal bis unmittelbar vor Paul Bosses Verhaftung am 21.7.1944 äußert, sogar ein letzter, handgeschriebener Feldpostbrief als „zwangsdienstverpflichteter“ Arzt aus einem Lazarett der OT im Harz vom Oktober 44 ist archiviert: An den veränderten Lebensumständen (kein Chefarzt in eigener Klinik und Briefpapier ohne den gewohnten Briefkopf, handschriftlich geschrieben etc.) konnte Domagk sehen, dass eine grundlegende Veränderung eingetreten sein musste, nämlich seine Zwangsdienstverpflichtung. In Paul Bosses „Verfolgungsbericht“, den er nach dem Krieg verfasst, ist die Rede von einer Zwangsdienstverpflichtung zur OT, die nach der Ermordung seiner Frau im KZ Ravensbrück aufgehoben wurde, da er nun – nach nationalsozialistischer Logik – nicht mehr „jüdisch versippt“ war.
Briefe von Domagk befinden sich nicht im Archiv.
Die medizinische Dimension dieses Themas soll uns hier nicht weiter interessieren. Auf einen anderen Aspekt weisen die Autoren hin. „Wenn deshalb heute [1942] zahlreiche Autoren den Gedanken der örtlichen Anwendung als „naheliegend“ bezeichnen, so ist demgegenüber festzuhalten, dass trotz der Veröffentlichungen unserer Arbeitsgemeinschaft verschiedene Jahre lang keine Notiz von unseren … Ergebnissen genommen wurde und noch im Jahre 1940 auf der großen Aussprache über den derzeitigen Stand der Sulfonamidtherapie in der Berliner Medizinischen Gesellschaft der örtlichen Anwendung keine Erwähnung geschah, während im Ausland schon relativ frühzeitig (1939) die Konsequenz durch die Einführung der örtlichen Sulfonamidtherapie für militärärztliche Zwecke gezogen wurde“.
Paul Bosses Interesse an militärärztlichen Fragestellungen bekommt ab 1933 zwangsläufig dadurch, dass seine Familie nationalsozialistischer Verfolgung ausgesetzt ist, eine besondere Note. Wir können nicht wissen, ob die Forschungstätigkeit, die von der Bosse-Klinik ausging, mit dem Prädikat „jüdische“ Forschung abgetan oder im Gegenteil als kriegswichtige Forschung angesehen wurde – dies könnte auf der Suche nach einer ‘schützenden’ Hand für den Bestand und den Erfolg der Klinik ein Hinweis sein. Es ist plausibel anzunehmen, dass Hoffnungen, dem Schutz der Familie zu dienen, damit verknüpft waren, Weg weisende Forschungsergebnisse für die Kriegschirurgie vorlegen zu können.
Auf beide Fragen scheint im Vorwort Bezug genommen zu werden, als die Autoren die Aufforderung des Verlages an sie kommentieren, das Gebiet der örtlichen Sulfonamidtherapie monographisch darzustellen: „ … folgen wir … um so lieber, als gerade in der Kriegszeit eine Gelegenheit zu umfassender Nachprüfung gegeben ist, an der uns im Interesse unserer verwundeten Soldaten ganz besonders viel gelegen ist; gleichzeitig darf von einer zusammenfassenden und kritischen Darstellung gerade dieses von autoritärer Seite aus lange stiefmütterlich behandelten Gebietes eine Anzahl grundlegender Erkenntnisse erwartet werden“. Von ausländischen Forschern veröffentlichte Ergebnisse der örtlichen Sulfonamidbehandlungen beim Einsatz in der Kriegschirurgie werden nur knapp vorgetragen, obwohl oder weil französischen und britischen Chirurgen diese (lokale und innerliche) Therapie ab 1939/40 zur Behandlung von Kriegswunden empfohlen wurde. Soll der letzte Satz in diesem Buch: „Dass gerade der deutschen Wissenschaft Fundament und große Teile des stolzen Gebäudes der Sulfonamidforschung zu danken sind, sei uns Verpflichtung und Mission“ vergessen machen, dass ein „jüdisch“ Versippter und zwei „Halbjuden“ die Autoren dieses Buches sind?
Dass schon länger Paul Bosse Fragen der Wundheilung beschäftigten, kann man seinem Bericht über das Reinsdorfer Unglück entnehmen, in dem viel von den dem Heilungsprozess förderlichen Lebertranverbänden die Rede ist. Insofern muss ihn die Vorstellung eines örtlich applizierbaren antimikrobiellen Medikamentes bestochen haben. In der militärärztlichen Chirurgie sollte es nach dem Scheitern eines Blitzkrieges gegen die Sowjetunion zu einem internen Machtkampf zwischen Vertretern der alten Kriegschirurgie, die nur eine Wundausschneidung lege artis gelten lassen, und Befürwortern der Sulfonamidbehandlung kommen, denn man war mit bisher nicht bekannten „Verwundungsbildern“ konfrontiert. „Mit Beginn der sowjetischen Offensiven änderten sich die zu versorgenden Krankheitsbilder dramatisch. Zunehmend dominierten Probleme der Kriegschirurgie die medizinische Diskussion.“ So kommt es zu einer grausamen Koinzidenz der Ereignisse.
Das Attentat auf den SS-Obergruppenführer, Chef des RSHA und Organisator der „Endlösung der Juden“ Heydrich und sein Tod beschleunigen die Entscheidung zu Menschenversuchen im KZ, um den „Sulfonamidbeuteln und dem Penicillin“ alliierter Soldaten ein deutsches „Wundermittel“ in Form eines hochwirksamen Chemotherapeutikums entgegenzuhalten.
Hitlers Leibarzt Morell hatte den eigens aus Berlin nach Prag – Heydrich war stellvertretender Reichsprotektor von Böhmen und Mähren – angereisten Beratenden Chirurgen der Waffen-SS Gebhardt kritisiert, dass sich der Tod Heydrichs hätte verhindern lassen, wenn er ein von ihm, Morell, entwickeltes, modernes Sulfonamid verabreicht bekommen hätte. [1]
Zwischen August 1942 und September 1943 – in dieser Zeit wird die Monographie über die örtliche Sulfonamidtherapie geschrieben – werden Versuche an über 70 jungen Frauen im KZ Ravensbrück durchgeführt. Ihre ihnen operativ zugefügten Wunden werden infiziert, zum Teil unter örtlichem Zusatz von Sulfonamiden in der Absicht, deren Wirksamkeit zu prüfen. Viele Frauen überleben diese Menschenexperimente nicht. Der Leiter dieser kriegschirurgischen Experimente, Karl Gebhardt, Himmlers Leibarzt, „Beratender Chirurg der Waffen-SS und Oberster Kliniker im Stab des Reichsarztes-SS und Polizei“, ein Gegner der neuen Behandlungsmethode, wurde nach dem Krieg hingerichtet. Der negative Ausgang der Ravensbrücker Menschenversuche verlangsamte, verhinderte aber nicht den zunehmenden Gebrauch von Sulfonamiden in der Kriegschirurgie, hauptsächlich des Marfanil, das vornehmlich gegen Gasbrand eingesetzt wurde – und dies, rechtzeitig angewandt, mit Erfolg, so jedenfalls ihre Befürworter.
In einem Schreiben des Schwiegersohns von Paul Bosse vom 1.8.1944 an die Kanzlei des Führers nach der Verhaftung der Familie heißt es: „Dass mein Schwiegervater … wegen seiner wissenschaftlichen Tätigkeit durch Eingreifen der Reichsärztekammer … zurückgestellt wurde(n) [gemeint ist der Versuch, ihn im April 1944 zu Bauarbeiten in den Westen abzuschieben], hat vermutlich die an der Entfernung des Dr. Bosse aus seiner Berufstätigkeit interessierten Personen auch verärgert“.
Am 1.11.1944 wird Käte Bosse im KZ Ravensbrück registriert – als politische Gefangene
jüdischer Nationalität. Die Überstellung Käte Bosses aus dem Gefängnis Halle in das KZ Ravensbrück ist nur mit Hilfe lokaler Behörden denkbar, die die „privilegierte“ Mischehe kriminalisiert haben. So wurde Paul Bosse während seiner Haft im Wittenberger Gefängnis intensiv danach befragt, ob er Kontakte zu Maximilian Meichßner habe, dem Vater eines Mitwissers des 20.7.44. Käte Bosse ist als einzige Wittenbergerin aus einer „privilegierten“ Mischehe in ein KZ gekommen und ermordet worden. Der reichsweite Befehl zur Deportation von „Juden“ aus diesen Mischehen erfolgte Mitte Januar 1945, da war Käte Bosse nicht mehr am Leben. Paul Bosse machte lokale Umstände dafür verantwortlich, eine lokale Aktion unter dem Mantel einer deutschlandweiten Vergeltungsaktion nach dem 20.7.44. Der immer auch prekäre „Schutz“, den die kriegswichtige Forschung in der Bosse-Klinik vor lebensbedrohender Verfolgung im „Dritten Reich“ geboten hatte, war nach dem 20.7.44 nicht mehr gegeben (s. auch Stummeyer D (2020) Domagk 1937-1951) – Im Schatten des Nationalsozialismus, 6. Kapitel: Das Sulfonamidbuch Bosse-Bosse-Jaeger, Springer Heidelberg).